Von der Kürsinger Hütte über die Venedigerscharte Schwierigkeit: WS-
Im langen Gebirgszug der Hohen Tauern und Zillertaler Alpen überragen und dominieren zwei Berge über alle anderen: der Großglockner und der Großvenediger. Dabei sind sie so verschieden, wie sie nur sein können: Hier der hochragende und bedrohliche Steilfels des Glockners, dort die einfache Pyramide des Venedigers, diese allerdings ins Riesenhafte gesteigert und von einem Eismantel übergossen. Der Venediger ist längst nicht so spektakulär wie der Glockner, die Form selbst ist schön, aber wenig aufregend. Was ist das Besondere am Venediger? Wer sich ihm nähert, erlebt zuerst die Strenge seiner auch heute noch gewaltigen Gletscherlandschaft. Weit oben enthüllt sich schließlich auch seine zweite Haupteigenschaft: die Größe des Venedigers, seine Entfaltung in der Breite. Wenn man in der Kürsinger Hütte startet und nach knapp vier Stunden Aufstieg die Venedigerscharte erreicht, wird man von der Mächtigkeit des Gletscherplateaus auf der anderen Seite überrascht und überwältigt: Noch in 3500 Metern Höhe – also hoch über den anderen Gipfeln der Venedigergruppe – ist es immer noch mehr als einen Kilometer breit. Was für ein Riese von einem Berg!
Die Normalroute des Großvenedigers von Norden ist eine reine Eistour. Kurz nach dem Aufbruch von der Kürsinger Hütte (2547 m) betritt man bereits das östliche Obersulzbachkees und verfolgt die allenfalls mäßig steilen Gletscherhänge (bis 30°) zur Venedigerscharte und weiter bis zum Gipfel. Erst bei der Rückkehr am Nachmittag wird man wieder festen Grund (Fels) unter die Füße bekommen. Der sehr spaltenreiche Gletscher verlangt auf jeden Fall das Anseilen in der Seilschaft, ein Alleingang kommt nicht infrage. Selbst eine Zweierseilschaft ist gefährdet und braucht angesichts der Mitreißgefahr bei einem Spalteneinbruch viel Können und Erfahrung. Bei vollständiger Firnbedeckung gibt es weder unter der Venedigerscharte noch am Gipfelfirngrat technische Schwierigkeiten. In manchen Sommern jedoch apert der Gletscher so stark aus, dass auf der Nordseite der Venedigerscharte eine große Spalte aufreißt, deren Kluft nur noch mit Leitern zu überwinden ist. Dies war meines Wissens nach zuletzt im August 2015 der Fall.
Die Besteigung des Venedigers verlangt aus mehreren Gründen hochalpine Erfahrung und Ausbildung: Nebel, schlechte Sicht und von Neuschnee zugedeckte Trassen können für ernste Orientierungsprobleme („white out“) sorgen. Die unter dem Eis verborgenen großen Spalten werden dann zur Gefahr. Auf die Situation eines Spaltensturzes muss man vorbereitet sein: Jede Seilschaft sollte das Material und das Know-how besitzen, eine Spaltenbergung selbständig zu bewältigen. Ich selbst schloss mich in Ermangelung geeigneter Seilpartner einer Führungsgruppe an. Bei unserer Besteigung am 13. Juli 2017 bildeten die selbständigen Seilschaften, so mein Eindruck, eindeutig eine Minderheit.