Aufstieg vom Gasteiner Nassfeld über den Neuwirtsteig Schwierigkeit: L
Das Rauriser Schareck ist ein Berg voller Widersprüche. Über dem Rauriser Tal thront der zweithöchste Gipfel der Goldberggruppe als „gewaltiger Felskasten“, gekrönt von einer „eigenartig niedrigen Eispyramide“. Wolfgang Heitzmann meinte damit die Nordwände und das obenauf liegende Schareckkees. Die mächtige Gestalt nach Norden ist aber nur „die halbe Wahrheit“, denn die Unversehrtheit des Scharecks ist leider auf der Südseite durch das Sommerskigebiet „Mölltaler Gletscher“ zerstört. Die Lifte ziehen sich dort bis auf 3095 Meter, so dass man, wenn man denn will, das Schareck quasi im Spaziergang „mitnehmen“ kann. Wer dem Angebot der Lifte widersteht und das Schareck über die nordseitigen Routen (Neuwirtsteig und Pröllweg) besteigt, kommt zum Glück trotzdem in eine wunderbare Naturlandschaft.
Das gilt besonders für den Neuwirtsteig, der eine großartige Linie am Nordostgrat des Aperen Schareck zieht und dann auch noch einen kleinen Plateaugletscher überschreitet. Dabei bezwingt er eine riesenhafte, 1540 Meter hohe Flanke, die voller Wildheit ist: Diese Route bewegt sich in einer ungewöhnlich großartigen, vielleicht sogar einmaligen Szenerie. Bereits im Vorfeld der Tour war ich vom Anblick dieser Hänge fasziniert: Hoch oben schwebt der Nordostgrat als kühne Felskante über dem Tal. Diese Kante hat „Schneid“ und fällt zu beiden Seiten in große Tiefe ab. Doch gerade hier kommt man durch! Der Neuwirtsteig löst das „Problem“ mit ein paar Sicherungsseilen, aber ohne eine einzige schwierige Stelle. Die kühne Routenführung überrascht auch in Hinblick auf ihre historische Dimension, denn der Neuwirtsteig wurde schon 1885 eröffnet.
In Bezug auf seine Schwierigkeit ist der Neuwirtsteig eine „leichte“ Hochtour. Der obere Nordostgrat mit seinen Sicherungen (Schwierigkeitsgrad A-B) setzt absolute Trittsicherheit und eine Portion Schwindelfreiheit voraus. Für ausreichend erfahrene Bergsteiger ist das auch ohne Klettersteigsicherung machbar. Die Überschreitung des flachen Schareckkees ist ohne Seilsicherung möglich, insofern man entsprechend der Wegbeschreibung den wenigen schmalen Spalten aus dem Weg geht. Bei Blankeis sind ein Paar Grödel angenehm.
Am 15. August 2017 kombinierte ich den Aufstieg über den Neuwirtsteig mit einem Abstieg über den Pröllweg zum Niedersachsenhaus (genauer: über den Schareck-Westgrat und den Nordgrat des Herzog Ernst): Es ist eine herrliche Überschreitung, bei der man sich über Stunden auf hohen Graten bewegt. Die reine Gehzeit bis zum Niedersachsenhaus beträgt dann sieben Stunden.
Eine Begehung in umgekehrter Gehrichtung (Niedersachsenhaus – Pröllweg - Schareck – Neuwirtsteig - Gasteiner Nassfeld/Sportgastein) bietet Vorteile im Sinne einer hoch gelegenen Übernachtung vor dem Gipfelaufstieg und einer kürzeren Gehzeit (6:15 Std.), ist aber „landschaftsdramaturgisch“ vielleicht weniger spannend.