Nordwestgrat über das Graue
Nöckl
Schwierigkeit: ZS-
Der Hochgall ist einer der majestätischsten und imposantesten Gipfel der Ostalpen. Sein Normalweg führt von der (Alten) Kasseler Hütte (2276 m; Hochgallhütte, Rifugio Roma) über das Graue Nöckl (3084 m) und den Nordwestgrat zum Gipfel. Dabei erlebt man einen Berg, den man als streng bezeichnen kann, der aber nicht hinterhältig ist, sondern geradlinig und transparent. Die Anforderungen erreichen knapp die Stufe einer ziemlich schwierigen Hochtour (ZS-) und damit ist der Hochgall einer der schwierigsten Zentralalpengipfel östlich des Brennerpasses. Wer diese Klassetour erlebt hat und wen die starken Eindrücke nicht loslassen, die der höchste Berg der Rieserfernergruppe bei seiner Besteigung hinterlässt, der kann wahrscheinlich meine Einstufung verstehen: Ich denke, der Hochgall gehört zu den drei Top-Gipfeln der Hohen Tauern, zu denen ich auch den Großglockner und den Großvenediger zähle. Nicht nur, weil er schwieriger ist als die beiden anderen, sondern auch ursprünglicher und eindrücklicher, würde ich ihn persönlich sogar über den Glockner und den Venediger stellen.
Der Hochgall war für mich persönlich immer eine Messlatte, ein Prüfstein, der bezogen auf meine Alleintouren für meine obere Grenze stand. Über einen Zeitraum von 12 Jahren verzichtete ich immer wieder einmal auf einen Besteigungsversuch: Mal wich der Neuschnee zu langsam aus seinem obersten Gratabschnitt, mal glaubte ich durch die Anstrengungen einer anderen Tour nicht genügend „auf der Höhe“ zu sein und manchmal gab ich mich einfach zufrieden mit den Touren eines Jahres und verschob den Hochgall auf ein neues Jahr. Es ist halt ein Berg, der witterungsmäßig nicht so oft geeignet ist und für den ein durchschnittlicher Bergsteiger in guter Form sein sollte. Schließlich wählt man sich ja eine Messlatte, um sie zu schaffen!
Am 20. August 2023 stimmte dann endlich alles bei mir: Eine stabile Hitzeperiode hatte den Neuschnee vollständig abgeschmolzen und Akklimatisation und Fitnessstand passten auch. Auf der Kasseler Hütte hatte ich mit einem vom Hochgall zurückkehrenden Bergsteiger gesprochen. Er betonte die Länge der Kletterei und die andauernden Anforderungen an Konzentration, Kletterroutine und Schwindelfreiheit. Sein Fazit, das ich hiermit weitergebe: Man sollte beim Aufstieg „durchziehen“ und zum „Durchziehen“ auch in der Lage sein. Diese Taktik bewährte sich bei meinem Aufstieg und verschaffte mir genügend Zeit für den Abstieg. Das ist gut, weil man beim Abstieg wahrscheinlich schon etwas müde ist, aber weiterhin die volle Konzentration braucht. Die Schwierigkeiten erreichen oft den 2. Grad, so oft, dass ich mir das Zählen der „Zweierstellen“ für die Tourenbeschreibung sparen konnte. Darüber hinaus ist es für jeden Neuling auf diesem Berg nicht unwahrscheinlich, dass ihm auch einmal eine Stelle 2+ oder sogar 3- unterkommt. Dass man nicht ständig das leichteste Durchkommen findet, liegt an der schieren Länge der Kletterei: Es sind mindestens 550 Höhenmeter im Aufstieg und ebenso viele im Abstieg zu klettern. Wenn man die horizontale Dimension einbezieht, hat man es mit etwa 1800 Metern (leichter) Kletterei zu tun. Aber das in wirklich gutem Fels, der die Nerven beruhigt und die Kletterei zum Vergnügen macht.